Bea Milana - Autorin

Gegenwart . Literatur . Europa

Keinen Ärger mit der Leiche

Es existiert kein Grab, kein Stein, kein irdischer Ort – nichts, das uns half, je helfen würde, ihrer zu gedenken. Übrig blieben ein paar Bilder – verschwommene Fetzen glücklicher Kindheitsepisoden, Sommerurlaube im Paradies, unbändiges Freisein in der Natur – fern der regelwütigen Worte und Strafen des Alltags zuhause.

Meine Großmutter hatte ihre leibliche Hülle der Universitätsklinik in Innsbruck vermacht. Sie sagte, die Medizinstudenten sollten an ihr lernen, so würde sie bis zum Schluss zu etwas gut sein. Allzu oft stellte ich mir vor, wie man ihren kleinen, fast zerfallenen Körper in Einzelteile zerlegte – das feine Reiben der Knochensäge fräste sich in mein Hirn –, und wie Schneidewerkzeuge ihre Organe entfernten und selektierten, wie bei einem Stück Rind. Und ja, mein Verstand verstand ihre Vollmacht, verstand, dass sie über ihren eigenen Körper verfügen wollte, bis über den Tod hinaus, aber mein kindliches Gefühl verstand das nicht.

Immer war ihr wichtig gewesen: zu geben, zu lernen, zu diskutieren,  Dinge zu hinterfragen. Meine Großmutter war neugierig, widerspenstig, arbeitswütig, und ich ihr fröhliches, seelenverwandtes Pendant.  Als sie schon nicht mehr richtig sehen konnte, lief sie – ohne sich vorher umzuschauen, ohne auf den Verkehr zu achten – über die Straße, und dann sagte sie auf der anderen Seite zu mir: Die passen schon auf mich auf. Die wollen bestimmt keinen Ärger mit der Leiche. Doch weil sie bis ins hohe Alter mutig, klug, unangepasst und rechthaberisch war,  hatte sie viel Ärger im Leben, vor allem mit ihrer Familie. Sie verstanden ihr Wesen nicht.

Wir saßen zu fünft in ihrem Zimmer in einem Altersheim in Salzburg. Wir, ihre Enkel, waren aus verschiedensten Ecken Deutschlands angereist, um Abschied zu nehmen. In jedem von uns schwelten andere Erinnerungen, doch sie überschnitten sich und vereinten uns in dem Moment, in dem wir ihrer gedenken wollten. Anfangs wagte keiner von uns ein Wort. Wie Blei lastete die Fassungslosigkeit auf uns.  Bevor wir diese Leere verbannten und zu erzählen begannen, fotografierten wir mit unseren Augen schweigsam ihr Zimmer, wissend, es würde das letzte Mal sein, bei dem wir ihr nahe sein konnten. Keine Frage, keine Provokation, kein Witz, wie sonst.  Stattdessen: Rechts das schmale Bett,  an den Wänden die Bilder, die wir aus unserer Kindheit kannten, ein Nolde, ein Miro, ein paar Fotos, auf denen das Meer leuchtete. Ein karger Raum, in dem sie die letzten Jahre, halbblind, verbrachte.  Der gestrickte Wichtel auf der Kommode neben dem Bild ihres zweiten Mannes, praktische Kleidung in den Schränken, die darauf wartete, entsorgt zu werden, bevor sie auf dem Müll landete.

Ich bedauerte zutiefst, nicht an der frischen Luft zu sein, wollte Blumen auf ihr Grab legen und sie mit Schnaps begießen, den Wind spüren – stattdessen rochen die Cousinen an ihrer Strickjacke, wühlten in den Schubladen, verteilten Handtücher, Bilder,  Habseligkeiten. Ich guckte nicht hin und nahm auch nichts mit.

Ich habe sie sehr geliebt. Ihre Weisheit, ihre Lebenserfahrung, ihr Humor fehlen mir. Doch glückliche Kindheitserinnerungen kann einem keiner nehmen. Selbst eine Knochensäge, die eine geliebte Person am Ende des Lebens zerschneidet, schafft das nicht.

Meine Großmutter starb im Alter von 94 Jahren. Es ist schon ein paar Jahre her, aber es scheint, dass ich erst jetzt Worte für sie finde. Ich vermute, es liegt an der aktuellen Flüchtlingssituation. Wenn sie es damals im Winter 1944/45 nicht geschafft hätte, würde es mich nicht geben. Sie floh hochschwanger mit meiner Mutter, 2 ½ Jahre alt, aus Polen, immer im Zick-Zack vor den Russen. Kam heil in Hamburg an, hauste in einem Dachboden mit anderen Flüchtlingen, fand Arbeit als Sekretärin im Springer Verlag und machte Karriere. Zur damaligen Zeit war das alles andere als selbstverständlich. Als Personalchefin für alle weiblichen Angestellten verfügte sie später über einen eigenen Chauffeur und verdiente genug Geld, um sich ein Haus und ein Hausmädchen zu leisten. Mehr als einmal versprach sie, die Geschichte ihrer Flucht aufzuschreiben. Oft erzählte sie mir von dieser Reise, und auch von den Amouren der Redakteure während ihrer Arbeit bei der Zeitung. Aber es blieb beim mündlichen Erzählen – leider. Dennoch werde ich ihre Worte nie vergessen. Ihre Geschichte wohnt in mir.  Eine Geschichte der Flucht,  des Neuanfangs, des Hungers und Mangels. Und der Selbstbestimmung.

Sollten Sie also einer älteren Frau in einer meiner Erzählungen begegnen, können Sie sicher sein, dass meine Großmutter sich in ihr versteckt. (Scorsese lässt grüßen.) Auf ihrer Tür im Altersheim stand: Hier wohnt Ruth Strube. Und wenn sie nicht schon wieder umgezogen ist, wohnt sie immer noch hier.

Sie lebt in meinem Herzen und ich sehe ihr Antlitz in den Frauen, die mit ihren Kindern dem Krieg in Syrien entfliehen.RS

Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, ist nicht tot;

tot ist, wer vergessen ist.

 

 

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2 Kommentare

  1. Wunderschön, authentisch, berührend. Danke für diese Zeilen.

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