Über Spuren, die Leser in Büchern hinterlassen

Früher hielt ichBooks und ebooks Bücher ehrfürchtig in den Händen. Meine Finger strichen liebevoll über die Seiten. Geburtstagsglückwünsche schrieb ich grundsätzlich auf eine Karte, um ja nicht das jungfräuliche Weiß der ersten Seite zu beschmutzen. Niemals hätte ich gewagt, eine Ecke zu knicken, womöglich eine Seite herauszureißen.

Seit einigen Jahren jedoch knicke und markiere ich, was das Zeug hält. Ich unterstreiche, kommentiere, hinterlasse kryptische Zeichen, die ich später nur mit Mühe entziffern kann, und Buchstabenkürzel: A steht für Ausdruck, M für Metapher, E für Erkenntnis, U für Unglaubwürdigkeit. Ist kein Bleistift zur Hand, kann es auch der rosa Filzer sein, der einen dicken Strich neben den Absatz oder unter den Satz streicht, den es hervorzuheben lohnt.

Der Wandel der Zeit und der Fortschritt kommt mir und anderen Millionen Kunden gelegen.  Will ich ein neues Werk an einem Sonntagmorgen oder Freitagabend sofort lesen, klicke ich hastig auf den  Mit einem Klick kaufen-Button, um mich eine Minute später ins Leseabenteuer zu stürzen.

Vor gar nicht so langer Zeit habe ich mit Freude entdeckt, dass ich meinem Markierungseifer beim e-Reader nicht entsagen muss. Ein Blick in die Notizen meiner elektronischen Bibliothek zeigt mir, dass andere Leser dieses Bedürfnis teilen. Hier eine kleine Zusammenstellung der Sätze, die auffallend oft hervorgehoben wurden.

154 Markierer in Edward auf den ersten Blick von Stephanie Meyer. Pos. 23

„So einfältig waren die Jungen, dass die Hälfte von ihnen im Geiste schon in sie verliebt war, nur weil sie den Augen einen neuen Reiz bot.“

50 Markierer in Vom Ende einer Geschichte von Julian Barnes. Seite 25

„Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.“

25 Markierer in Erlöse mich von Michael Robotham. Seite 234

„Die Tage eines Menschen bilden zusammengenommen irgendwann einen Kreis, keine Summe. Und wenn alles vorbei und man wieder dort ist, wo man angefangen hat, wünscht man sich, man hätte langsamer gemacht.“

16 Markierer in Der große Gatsby von Fitzgerald. Seite 127 – Kapitel 6

„Es ist immer schmerzlich, wenn man Dinge, in die man sehr viel eigene Anpassungsfähigkeit investiert hat, mit anderen Augen betrachtet.“

5 Markierer in Tricks von Alice Munro. Pos. 704 – Ausreißer

„Es war, als steckte irgendwo in ihrer Lunge eine tödliche Nadel, und wenn sie vorsichtig atmete, gelang es ihr, sie nicht zu spüren. Aber hin und wieder musste sie tief Luft holen, und dann war die Nadel wieder da.“

Notizen ebook

Durch meinen e-reader kann ich also feststellen, welche Sätze andere Leser markierten. Doch was macht der große amerikanische Konzern mit all diesen Daten?

Vor meinem geistigen Auge öffnen sich riesige Hallen mit riesigen Datenspeichern. Kein Mensch scheint hier zu atmen. In einem gläsernen Nebenraum stehen dutzende Drucker, die fast geräuschlos Statistiken auswerfen. Nur das stete Summen der Kühlungen ist zu hören. Wider Erwarten bewegt sich in der Tiefe ein einziges menschliches Wesen. Der Mann trägt eine graue Uniform – ein ehemaliger Hartz IV-Bezieher, der vom Jobcenter gezwungen wurde bei dem amerikanischen Konzern zu arbeiten, auch wenn die Arbeitsbedingungen alles andere als aktzeptabel sind. Tarifverträge finden ohnehin nur für die wenigsten Arbeitssuchenden Anwendung.

Zu gerne möchte ich den Mann in Grau fragen, wie der Satz heißt, der bisher am meisten markiert worden ist. Auch würde ich gerne wissen wollen, ob der Konzern bald eine tolle Sammlung mit den ´Best of Literary sentences´ herausbringt?  Sie wissen bestimmt, die Leute lieben Hitlisten! Die 10 besten Schlankheitstipps oder die 15 meistgeklicktesten Videos oder die 20 Topunternehmerinnen Deutschlands.

Es gibt kaum etwas Schöneres, als Geheimnisse zu lüften.

Zugegebenermaßen fühle ich mich von verschiedenen amerikanischen Institutionen, die sich einen Dreck um den Datenschutz kümmern, durchleuchtet (leider immer noch nicht erleuchtet), doch mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass auch meine Abdrücke im Internet registriert werden. Amerikanische Unternehmen und Institutionen leben davon, dass Millionen von Menschen das tun. Es ist Teil des Internets. Wer das nicht will, nutzt die Freiheit der Wahl oder entsprechende Gegenmittel.

 Nun soll noch einer behaupten, Lesen und das Internet würden nicht verbinden!

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