Fluch und Segen der digitalen Technik

Großraumstörungen gelten neben kosmischen Störungen, psychosomatischen Störungen, Störungen des Darmtraktes, Konzentrationsstörungen und Betriebsstörungen zu jener Art Störungen, die höchst unwillkommen sind. Ihre Nebenwirkungen und Folgen sind von unabsehbarer Tragweite und ihr Beheben außerhalb unserer eigenen Wirkungs- und Vorstellungskraft.

Ihr Ursprung findet sich meist in Bauarbeiten. Die Baggerschaufel eines einfachen Bauarbeiters verrichtet ihren Dienst, hebt und gräbt aus und beschädigt dabei versehentlich Glasfaserkabel. Die Folge: Ausfall des Internets, Ausfall der Telefonie, Ausfall diverser Computeranlagen, Geldautomaten, kurzum: Alle wichtigen technischen Errungenschaften, die unser Leben in den letzten zwanzig Jahren erleichterten, sind schlagartig lahm gelegt.

Rien ne va plus. Jemand hat die Halsschlagader getroffen. Die Menschheit ist kommunikationsunfähig, grausam abgeschnitten vom Rest der Welt, die totale Isolation droht für Stunden, Tage, Genaues weiß man nicht. Wir wurden technisch zurückgeworfen ins finstere Mittelalter mit dem einzigen Unterschied: Der Strom läuft.

Noch.

Die schlechte Laune des Chefs am Siedepunkt, er duldet keinen Aufschub, kann sich Verzögerungen nicht leisten. Zeit ist Geld, das weiß doch jeder.

Die schlechte Laune der Ehefrau am Gefrierpunkt, sie meckert ihren Mann an, er sei mal wieder zu blöd ist, den Fernseher richtig einzustellen. Wieso, kreischt sie, kann ich meine Kochsendung heute nicht sehen?

Und das Kind? Es versinkt in Apathie, seitdem es sich bei Pokémon Go nicht mehr einloggen kann und auf unerklärliche Weise seines Lebensinhalts beraubt wurde.

Wie konnten wir die Zeiten vor dem Highspeednetz überleben? Schlagartig wird uns bewusst, wie abhängig wir sind. Der Entzug ist schwer zu ertragen, das Verständnis unterschiedlich groß. In den ländlichen Gegenden unseres Landes,  dort, wo aufgrund des fehlenden Ausbaus des digitalen Netzes einige Wenige ihr Sein im  digitalen Nirwana fristen, und das täglich, versteht man Großraumstörungen ohnehin nicht. Wehe dem, der in die Provinz reist.

Die Wetterkarte der digitalen Welt

Auf der Internetseite allestörungen.de finden sich Live-Störungskarten, die dem Nutzer veranschaulichen, welche Großstadt von einer Störung heimgesucht wurde. Diese Serviceseite bezeichnet sich als Wettermann der digitalen Welt und bietet neben einer Übersicht aller Störungen, auch die wöchentlichen TOP 10 und eine Vielzahl von Unternehmen, die stündlich ihre Störungen veröffentlichen. Gelbe Punkte mit einem feuerroten Kreis markieren Städte, als wären dort Bomben eingeschlagen.

In den Kommentaren findet sich eine nüchterne Bestandsaufnahme:

Urheber: Google maps

Foto: allestoerungen / Google maps

Kein Netz.

Ein Netz.

Seit Tagen Interneteinbrüche.

Schlechtes Netz.

Oh weh! Nicht schon wieder!

Einen Kunden weniger.

 

Die Tatsache, dass große Firmen gleichermaßen von Störungen betroffen sind, scheint den verstörten Großraumbürger zu besänftigen. Vodafone bekämpft seit 10:01 Uhr eine Störung, ING DiBa seit 11.48 Uhr, Comdirekt seit 16.55 Uhr, Web.de seine seit 12.25 Uhr und die Deutsche Telekom meldet einen massiven Ausfall im gesamten Bundesgebiet. Haben Sie auch Probleme?

Großraumstörungen implizieren jene Art Katastrophe, der man sich bedingungslos ergeben muss. Ist der Protest  in den sozialen Medien verhallt, tritt Resignation oder südländische Ergebenheit an seine Stelle, verbunden mit der schwachen Hoffnung, die Techniker werden das Problem so schnell wie möglich beheben. Wie gut, dass es Handys gibt. Doch dann:

„Bundesweite Einschränkungen in unserem Mobilnetz. Ein Ausfall unserer Datenbanken …“

„Der Ausfall mehrerer Basisstationen und durch Wartungsarbeiten möglicherweise verursachte Störung des Mobilfunknetzes …“

Wenn der Totalausfall droht, ist Nachbarschaftshilfe angesagt. Der Mensch nimmt persönlich, also von Angesicht zu Angesicht, Kontakt zu anderen Leidensgenossen in seiner unmittelbaren Umgebung auf. Er kommuniziert seit langem mal wieder mit dem Arbeitskollegen gegenüber, steht im Wohnzimmer seines Nachbarn, zeigt seine Katzenfotos oder reicht Handys von Balkon zu Balkon. Unzählige Male ruft man seinen Internetanbieter an, landet in der Warteschleife im Abseits, bis – endlich, endlich, Geduld sein Dank –, die Stimme der Kundendienstberaterin säuselt, was man längst ahnte.

„Gedulden Sie sich bitte. Unsere Techniker arbeiten mit Hochdruck daran, das Problem in den nächsten Stunden zu beheben. Sie sind nicht die Einzige! Es handelt sich um eine Großraumstörung.“

 

 

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